Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Den Sprachlosen eine Sprache geben

„Ein Hund kam in die Küche“ oder ein Roman wider der Sprachlosigkeit und des Vergessens

Der Südtiroler Schriftsteller Sepp Mall stellte kürzlich auf Einladung der Tyrolia Imst seinen neuen Roman „Ein Hund kam in die Küche“ in der Stadtbühne vor. Der Roman erzählt intensiv und eindringlich vom Kindsein im Krieg, von Euthanasie und der Südtiroler Geschichte. An die 90 Zuhörer erlebten einen berührenden Abend wider des Vergessens. Anna Rottensteiner, die ehemalige Leiterin des Literaturhauses am Inn, eröffnete die Lesung mit einem Autorengespräch.
19. März 2024 | von Friederike Hirsch
Den Sprachlosen eine Sprache geben <br />
Sepp Mall und Anna Rottensteiner, ehemalige Leiterin des Literaturhauses am Inn (v.l.), im ausführlichen Autorengespräch in der Stadtbühne Imst. RS-Foto: Hirsch
In ihren einführenden Worten zum Autorengespräch bezeichnete Anna Rottensteiner den Autor Sepp Mall als „einen der bedeutendsten Südtiroler Schriftsteller unserer Zeit“.  Mit dieser Einschätzung ist Rottensteiner nicht allein. Komplexen Themen der jüngsten Zeitgeschichte werden von Sepp Mall immer wieder mit viel Bildhaftigkeit und berührendem Einfühlungsvermögen in Romanen und Gedichten zu Papier gebracht. Sein jüngstes Werk „Ein Hund kam in die Küche“ stand verdient auf der Longlist-Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2023. „Es ist mir ein Rätsel, warum Sepp Mall diesen Preis nicht bekommen hat, denn es ist ein Roman, der viel weiter als über Südtirol hinausgeht“, so Anna Rottensteiner. Der Roman erzählt die Geschichte einer Südtiroler Familie während der NS-Zeit und des Krieges. Ein Roman über die Südtiroler Auswanderung und die NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderung. Sepp Mall erzählt diese Geschichte, die verbunden ist mit Tod und Trauer, Verlust und Schmerz aus der Perspektive eines Kindes.

INHALT. Eine Familie aus Südtirol entscheidet sich 1942 im Zuge der »Option» für die Auswanderung ins Deutsche Reich. Der 11-jährige Ludi erzählt von den letzten Tagen im Dorf und der ersten Station im Deutschen Reich: Innsbruck. Auf Anweisung der Ärzte muss sein behinderter Bruder Hanno in eine Anstalt bei Hall gebracht werden. Die restliche Familie zieht weiter nach Oberösterreich. Der Vater wird in die Wehrmacht eingezogen und auch Hanno kehrt nicht mehr zurück. Ein Brief aus einer »Heil- und Pflegeanstalt« des Reiches ist alles, was der Familie von ihm bleibt. Die Odyssee führt die Familie später in eine Wohnstätte nahe Landeck und, nach Kriegsende per Flucht, wieder zurück in den Vinschgau, nach Mariendorf, einem fiktiven Dorf an der Vinschgau Bahn nahe Meran.

KIND SEIN IM KRIEG. Wie lässt sich das Unbegreifliche verstehen und wie überlebt man ein kollektives Trauma? Ein Trauma geprägt von Krieg, Verrohung und Verbrechen vor dem Hintergrund der Südtiroler „Option“. Sepp Mall wählt die Perspektive eines Kindes, um das Unaussprechliche, das wofür die Erwachsenen keine Worte mehr haben, zu erzählen. „Es war eine gefühlte Entscheidung. Es wurde schon so viel gesagt und geschrieben, über „Option“ und Nationalsozialismus. Die Sicht eines Kindes ist frei von Ideologie, von Nationalismus und politischer Färbung“, so der Autor. Die dunkle Zeit unserer Geschichte aus dem Blickwinkel eines Kindes zu erzählen, wie es etwa Günter Grass in seiner „Blechtrommel“ gemacht hat, ist sprachlich kein leichtes Unterfangen. In seiner Familie habe es keine Wörter für den Abschied gegeben: So beginnt das kindliche, später jugendliche Ich seine Erzählung. Wie aus einem löchrigen Sack seien sie ihrem Sprachschatz entfallen, erst die Wörter für Abschied, später jene für Tod, Schmerz und Trauer. Begriffe, die dem Ich-Erzähler von den schweigenden Eltern vorenthalten werden, füllt er mit kindlichen Wortschöpfungen. Geflüchtete Sudetendeutsche werden zu "Schwedendeutschen" und ihr Hund, den Ansässige erschlagen, zum "Schwedenköter".

WIDER DES VERGESSENS. Vieles wurde schon geschrieben, gesagt, manches aufgearbeitet und so manchem geht des Thema Nationalsozialismus und Krieg „auf die Nerven“. Immer wieder hört man heute, dass das doch alles Geschichte sei, dass genug darüber geredet wurde und so manch einer leugnet sogar die Fakten. Sepp Malls Roman setzt ein deutliches Zeichen wider des Vergessens. Ein Roman, der taktvoll und manchmal roh, ideologische Fehleinschätzungen berührend, intensiv und emotional nachhaltig in unser Gedächtnis ruft. Ein Roman, der schockiert und begeistert und gleichzeitig „zum Austausch zwingt, und auch uns die Sprache wieder zurückgibt“.

 

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